Wir nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen haben das große Glück, in unserem Land noch keinen Krieg erlebt zu haben. Ein militärischer Konflikt in Europa schien bis vor kurzem quasi undenkbar. Angesichts des Jugoslawienkriegs in den 1990er-Jahren und mehrerer lokaler Konflikte stimmt das zwar nur begrenzt. Trotzdem bedeutet der russische Angriff auf die Ukraine eine neue Eskalationsstufe, da hier zum ersten Mal seit 1945 wieder ein Staat seinen Nachbarn mit regulären Truppen angreift.
Wie sollte der Rest Europas auf diese Situation reagieren? Wirtschaftliche und politische Sanktionen waren schnell beschlossen. Ein direktes militärisches Eingreifen des Westens war – allein schon aufgrund der atomaren Drohung – zum Glück kein Thema. Aber sollte man die Ukraine mit modernen Waffen versorgen oder zusehen, wie sie von der russischen Militärmacht überrollt wird? Nach einigem Zögern haben sich viele Staaten, wir Deutschen eingeschlossen, für die Lieferung schwerer Waffen entschieden. Das erhöht die Chancen der Ukraine, sich militärisch zu behaupten – und macht zugleich eine Verlängerung des Krieges wahrscheinlich.
Wer eine friedliche Welt will, könne keine Waffen liefern. Wir Europäer müssten uns vielmehr mit aller Kraft dafür einsetzen, dass Russen und Ukrainer verhandeln, so die Argumente der Kriegsgegner. Nur so können möglichst viele Menschenleben gerettet werden. Radikale Pazifisten sehen militärischen Kampf sogar grundsätzlich als Fehler, und empfehlen den Angegriffenen, sich mit gewaltlosen Mitteln zu wehren. Hätten die Ukrainer so gehandelt, gäbe es heute aber vielleicht nichts mehr zu verhandeln, da das gesamte Land russisch besetzt wäre, argumentieren dagegen die Befürworter der Waffenlieferungen. Und gerade in Osteuropa glauben viele Menschen, der „russische Imperialismus“ verstehe leider keine andere Sprache als Gewalt.
Wer in dieser Diskussion Recht hat, kann und will ich hier nicht entscheiden. Fakt ist, dass Kriege immenses Leid erzeugen und jede Waffe ein Mordwerkzeug ist. Auf der anderen Seite ist Notwehr ein Menschenrecht, und zuzusehen, wie ein Starker einem Schwächeren Gewalt antut, ist unterlassene Hilfeleistung. Egal was wir tun, es ist immer eine Wahl zwischen „Pest und Cholera“. Der einzig vernünftige Weg ist hier leider eine Gratwanderung. Wahrscheinlich muss man der Ukraine helfen, sich zu wehren, und gleichzeitig auf beide Seiten einwirken, wenn irgendwie möglich zu verhandeln. Denn nach dem Krieg müssen wir weiter auf diesem Kontinent zusammenleben. Da macht es keinen Sinn, zu einem Land alle Brücken abzubrechen.