In Estland können 99 Prozent aller staatlichen Verwaltungsleistungen online erledigt werden. Nur für Eheschließungen, Scheidungen und die Beurkundung eines Hauskaufs muss man noch persönlich zum Amt. Als Schlüssel dazu fungiert die estnische Bürgerkarte, die gleichzeitig Ausweis, Führerschein, Versichertenkarte und mehr ist. Wird in Estland zum Beispiel ein Kind geboren, meldet das Krankenhaus den Nachwuchs direkt bei den Behörden – und zugleich bei der Krankenversicherung, von der es in Estland nur eine gibt. In einer E-Mail werden Eltern anschließend informiert, auf welche Sozialleistungen sie im Zusammenhang mit dem Kind einen Anspruch haben. Das brauchen sie nur zu bestätigen, eine Antragstellung ist nicht nötig.
Nun ist Estland ein Kleinstaat mit 1,3 Millionen Einwohnern und einer Landesfläche von der Größe Niedersachsens. Die Situation lässt sich gewiss nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen. Trotzdem wäre uns ein bisschen mehr Mut zur Digitalisierung schon zu wünschen. Oder könnt ihr euch vorstellen, dass bei uns passende Sozialleistungen für ein Kind vom Staat aktiv angeboten werden – ohne lästige Antragstellung? Von einer allgemeinen Bürgerkarte sind wir noch Lichtjahre entfernt. Man muss sich nur anschauen, seit wann wir schon über die zentrale Speicherung von Patientendaten sprechen und wie digital die durchschnittliche Arztpraxis aufgestellt ist.
Die Corona-Pandemie hat es an vielen Stellen schmerzlich deutlich gemacht, welche Teile der Gesellschaft bei uns in der Moderne angekommen und welche im vorigen Jahrhundert stecken geblieben sind. Es gibt Unternehmen, für die war die Umstellung auf Homeoffice nur mit ein paar Klicks verbunden und schwupps konnten alle Mitarbeiter von ihren Dienstlaptops aus auf Firmendaten zugreifen und waren auch zu Hause über ihre Bürodurchwahl erreichbar. Das klappt bei deutschen Kommunalverwaltungen bisher nicht ganz so gut. Versucht mal, per E-Mail oder Telefon eine Auskunft von eurem zuständigen Sachbearbeiter zu bekommen – falls ihr ihn oder sie überhaupt erreicht.
Anstatt Verwaltungsvorgänge digital durchzuführen, werden bei uns Termine mit Monaten Vorlauf vergeben, und die Antragssteller stehen vor den geschlossenen Behörden im Regen. Ganz zu schweigen von den glorreichen Versuchen, ein vernünftiges Homeschooling auf die Beine zu stellen. Digitaltechnik ist in den meisten Schulverwaltungen nach wie vor ein Fremdwort. Oder ist es normal, dass eine Schule mit 1.600 Kindern nicht über W-LAN verfügt, und die Installation für 2023 geplant ist?
Wenn Bundesinnenminister Horst Seehofer sagt: „Wir stehen digital nicht in der Spitzengruppe. Aber da wollen wir hin“, kann man ihm sicher zustimmen. Die Frage ist nur, wann wir uns endlich auf den Weg machen?